Varshi/Indien

Wie ich ein lokaler Star wurde und vor hunderten Menschen auf der Bühne stand.

Es wird bereits dunkel und Regenwolken ziehen auf. Zeit, einen Lagerplatz zu suchen. “Woher? Wohin? Darf ich Dich in mein Dorf einladen?”, fragt wich ein Mann Ende 50. Nicht der schlechteste Zeitpunkt. “O.K..”
Ich folge ihm auf seinem Motorrad und lande im 5000-Einwohner-Dorf Varshi. Nach der Fahrt durch’s Dorf zu Mr. Girdhars Haus, so der Name meines Gastgebers, haben wir einen Schwanz Neugieriger. Ohne Nachfrage folgen diese bis ins Haus. Der Wohnraum, in den ich nebst Rad einquartiert werde, lässt sich mit großen Türen zur Straße hin öffnen. Das wird getan, und in den Raum drängen so viele Dorfbewohner, wie er fassen kann. Man will mein Fahrrad in Augenschein nehmen und mich beobachten, zunächst beim Tee trinken. Der indische Tee ist im übrigen sehr lecker – Wasser und Milch, oder auch nur Milch, werden gekocht, dann Tee, etwas Kaffee, Gewürze und Zucker hinzugegeben – aber leider immer nur in kleinen Mengen serviert.

Zum Abendessen im Zentrum des alten Hauses auf dem Steinfußboden wird zu Ehren des Gastes aus Steinpulver ein Muster auf die Erde gezeichnet, später noch mal etwas Ähnliches vor dem Eingang zum Haus.
An einem Straßenstand soll ich dann probieren, was die Einheimischen nach dem Essen zur Reinigung der Zähne und für den Magen zu sich nehmen. Ein Blatt wird mit Flüssigkeiten bestrichen und mit verschiedenen Samen und Pulvern belegt, das Ganze zusammengerollt, in den Mund geschoben, eine Weile dort behalten und dann gegessen. Darauf gefasst, jetzt zu sehen, wo die Messlatte in Sachen feuriger Würze liegt, ist die Rolle aber angenehm mild mit Eukalyptusgeschmack, eher wie Zahnpasta.

Dann etwas Kultur. Heute ist der letzte Abend einer religiösen Veranstaltung. Über 7 Tage wird die Geschichte Krishnas erzählt, eine der bedeutendsten göttlichen Figuren der Hindus. Ein Großereignis für die Bewohner Varshis und der umliegenden Dörfer. Auf der Bühne steht ein Anfang 20-jähriger Prediger und erzählt mit hoher Stimme in der Sprache Hindi, untermalt von Keyboard-Akkorden. Ein interessantes Schauspiel, obwohl ich kein Wort verstehe. Um mir den Abend besonders einprägsam zu gestalten, bindet man mich in das Geschehen ein. Ich muss mit auf die Bühne, einen Blumenkranz entgegennehmen, diesen dem Prediger umhängen, zwischendurch auf der Bühne sitzen. Nicht alles läuft reibungslos. Ich schwöre, ich wurde falsch instruiert. Der Prediger nimmt’s locker und selbst in die Hand, hunderte Zuschauer haben was zu lachen. So wird es ein langer Abend.

Dennoch heißt es am nächsten Morgen früh aufstehen, rauswandern aus dem Dorf – Yoga. Mr. Girdhar praktiziert das jeden Tag. Ich darf zusehen und mitmachen. Mit dem Ziel Körper und Geist zusammenzubringen und gesund zu erhalten, beinhalten die Übungen alle vorstellbaren Elemente – Kräftigungs- und Dehnungsübungen, etwas Lachen, etwas Tanzen, etwas Gebet, die Mimik einiger Tiere imitieren und vor allem verschiedene Entspannungsübungen und Atemtechniken.

Auf dem Veranstaltungsplan steht heute das Abschlussessen der “Krishna-Tage”, ein Essen für 7000 Menschen. In vielen langen Reihen sitzen die Menschen auf einem Schotterplatz, separiert nach Frauen und Männern. Ein Reisgericht und eine Süßspeise aus einem Getreide und karamellisiertem Rohrzucker werden auf zusammengenähten Blättern serviert. Sehr lecker.
Ansonsten verbringe ich den Tag damit, ein wenig im Dorf herumgeführt zu werden, sitze immer wieder inmitten unzähliger Menschen, um Fragen zu mir, meiner Reise und Deutschland zu beantworten. Ich werde allen bedeutenden Leuten des Ortes vorgestellt, und jeder will mich in sein Haus einladen. Unzählige Teerunden finden so statt. Ich bin begehrter Stargast. Meine Popularität erhöht sich noch dadurch, dass ein Artikel über mich in der Zeitung ist von einem am Vortag geführten Interview.
Am Abend dann noch ein Umzug. Religiöse Reliquien werden zu Gesang durch’s Dorf getragen. Vor jedem Haus sind Muster aus farbigen Pulvern, sogenannte Rangoli, hingemalt, um einen Gott willkommen zu heißen.
Anschließend Abendessen beim Arzt. Mein Gastgeber ist längst im Bett, als ich “nach Hause” komme.
Die viel zu kurze Nacht bewahrt mich aber nicht davor um 5 Uhr morgens wiederum zum Yoga aufbrechen zu müssen.

Eine feierliche Verabschiedung ist angesetzt und seit dem Vortag am Tempel angeschrieben. Vor diesem Tempel wird mein Rad auf einem Podest aufgestellt, ich stehe ebenfalls dort oben, vor mir die Dorfbewohner. Zunächst beantworte ich wieder Fragen, dann werden Reden über mich gehalten, ich halte eine Dankesrede, dann rituelle Ehrerbietungen. Man bindet mir ein langes oranges Tuch um den Kopf, ein sogenanntes Paghari, malt mir einen farbigen Punkt auf die Stirn, überreicht mir Geschenke. Vor allem nehme ich von allen Persönlichkeiten wieder und wieder die selbe Kokosnuss entgegen. Wichtigste Erledigung vor der Weiterfahrt ist die Vorführung meines Rades. Durch die Massen drehe ich noch ein paar Runden auf dem zentralen Platz. Eine Motorradeskorte begleitet mich die ersten Kilometer aus dem Dorf heraus. Man sagt mir, dass sich alle sehr über mich, mein Rad und meine Anwesenheit gefreut haben, und ich muss versprechen, in ein paar Jahren noch einmal vorbeizukommen.

Ein ganz besonderes Erlebnis mit Einblicken, die man sonst wohl nicht so schnell bekommt. Obwohl beide Seiten vermeintlich Englisch gesprochen haben, gab es leider gelegentlich eine Sprachbarriere, die tieferes Verständnis behindert hat.
Begeistert vom Erlebten, setze ich meine Fahrt fort.

Tom

Fotos zu diesem Artikel: Varshi/Indien : Fotos
Presse: Dhule/Indien, 03.06.2007

19. Juni 2007 - Tom | deutsche Texte | Kommentare :: comments :: comentarios | Inhalt drucken

2 Responses to “Varshi/Indien”

  1. 1 Maik 22 Juni 2007 @ 21:39

    Hej Tom!

    Wahnsinn! Freue mich sehr über die frischen Fotos, Berichte und Kommentare. Freue mich mit Dir. Ist schon ein komisches Gefühl jetzt hier zu sitzen, hier vor einem Bildschirm im roxanne Cafè in Weimar. Bin mit Elisa hier, waren 2 Tage im Sandstein wandern, jetzt 2 Tage in Weimar – kleine Deutschlandtour ;) Einen lieben Gruss von ihr und alles Gute! Sind ab Montag wieder in Berlin.
    Dann will ich mal mit der Übersetzung Deiner Texte ins Englische beginnen…

    Tom, halt durch und bleib gesund!

    Maik

  2. 2 Andreas 23 Juli 2009 @ 9:10

    wieder enie tolle post in deinen blog ..wird immer interssante , erlauben sie mir öfter rein zuschauen und paar kommentare einzugeben danke

Leave a Reply

  1.  
  2.  
  3.  


deutsch :: english :: español

Rubrik :: category :: categoría

Archiv :: archive :: archivo